Die 400 Meter gelten traditionell als längste Sprintdistanz, die 800 Meter als kürzeste Strecke des Disziplinblocks Lauf. Dies sorgt dafür, dass die Trennlinie zwischen beiden Strecken in der Trainerausbildung und der Einteilung von Athleten in Trainingsgruppen und auch in Kadern häufig deutlich schärfer verläuft als zwischen anderen Distanzen. Dabei gibt es unter den Athleten zahlreiche Beispiele, die im Karriereverlauf vom Langsprint in die Mittelstrecke wechseln oder über viele Jahre hinweg erfolgreich 400 Meter und 800 Meter im Wettkampf bestreiten. Für den DLV-Bundestrainer Mittelstrecke Männer, Georg Schmidt, sind dies starke Argumente, über eine engere Verzahnung beider Strecken im Training und insbesondere auch der Talentsichtung nachzudenken. Gemeinsam mit Andreas Grieß, Landestrainer Lauf in Hamburg, fasst er die bisherigen Ergebnisse dieser Überlegungen zusammen.
Georg Schmidt und Andreas Grieß | fachliche Mitarbeit von Nico Walter und Daniel Fleckenstein (beide IAT Leipzig)
Einleitung
Betrachtet man die für internationale Medaillen bei den Männern nötigen Leistungspotenziale über die 800-Meter-Distanz, fällt auf, dass die deutschen Mittelstreckeler von diesen Leistungen derzeit weit entfernt sind. Bereits bei Europameisterschaften werden für das Podest Potenziale von 1:44,00 bis 1:44,50 Minuten benötigt. Bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen ist dieser Bereich schon für den Finaleinzug gefordert. Die entsprechenden Mindest(!)-Zubringerleistungen über 400 Meter liegen dabei im Bereich von 47,00 bis 47,50 Sekunden. Für eine WM-Medaille sind 400-Meter-Potenziale (weit) unter 47 Sekunden gefragt – Zeiten, die in Deutschland aktuell nur eine Handvoll 800-Meter-Läufer überhaupt realisieren. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf, deren drängendste lauten:
- Wieso versuchen in Deutschland so wenige 400-Meter-Läufer der zweiten Reihe in oder ausgangs der U23 einen Umstieg auf die 800 Meter?
- Bedienen wir alle Modelle bzw. Charaktere (400/800 Meter + 800-Meter-Spezialisten + 800/1500 Meter)?
- Haben wir eine Vorstellung vom bzw. einen adäquaten Rahmentrainingsplan für das 400-/800-Meter-Modell?
- Wie sind vor diesem Hintergrund ehemalige deutsche Topläufer wie Nils Schumann, Nico Motchebon und René Herms zu bewerten, als Zufall bzw. Glücksfall oder als Ergebnis systematischer Unterdistanzarbeit?
- Wie wird aus vermeintlichem Zufall Systematik?
Aktuell gelingt es in aller Regel noch nicht, systematisch die Läufer-Typen frühzeitig zu identifizieren, die sich für das 400-/800-Meter-Modell eignen. Die meisten Athleten werden, je nach Prägung ihrer Trainer, entweder wie klassische Läufer oder wie klassische Sprinter trainiert. Zu selten wird über den Tellerrand geschaut, schlimmstenfalls sogar eine „Einmischung“ in den Disziplinblock von Trainerkollegen beklagt.
Gleichzeitig gelingt es den für die 800 Meter verantwortlichen Trainern nicht vollends, alle Talente für die doppelte Stadionrunde zu begeistern. Denn: Für viele der unterdistanz-orientierten Läufer wirkt die Mittelstrecke schlichtweg „unsexy“. Sie wird verbunden mit langen, langsamen Läufen und assoziiert mit dem Querschnitt des Disziplinblocks Lauf. Anders ausgedrückt: Manche Charaktere fühlen sich bisher schlichtweg von den 800 Metern nicht angesprochen – auch das kann sich mit einem dezidierten Trainingsmodell für diese Jugendlichen ändern. Dabei lohnt es, auch einen radikalen Bruch in Betracht zu ziehen, wie ihn auch andere Disziplinen vollzogen haben oder noch vollziehen, beispielsweise der Kugelstoß mit dem Umstieg auf die Drehstoßtechnik.
Der 400-/800-Meter-Typ
Bevor weiter auf ein entsprechendes Trainingsmodell eingegangen werden kann, ist es nötig, den 400-/800-Meter-Typ als solchen zunächst näher zu beschreiben. Dabei muss zunächst ein häufig vorherrschendes Missverständnis ausgeräumt werden. Es geht bei einem gemeinsamen Trainingsmodell für die 400 und 800 Meter nicht darum, die eine Distanz über die andere zu bedienen, sprich einfach nur Tempoläufe oder Gesamtumfänge aus dem 400-Meter-Training hochzurechnen bzw. hochzuskalieren oder das bisherige 800-Meter-Training mit mehr Intensität und dafür weniger Quantität zu absolvieren. Stattdessen geht es um ein an den leistungsbestimmenden Faktoren ausgerichtetes Gesamtkonzept. Auch kann es nicht Ziel sein, grundsätzlich jeden 400-Meter- oder 800-Meter-Athleten in dieses System zu zwängen, sondern die Athleten zu identifizieren, die sich dafür eignen, um diese dann stärkenorientiert zu trainieren. Oftmals wird genau der gegenteilige Ansatz verfolgt und das Unterdistanztraining bei Mittelstrecklern forciert, um Defizite auszugleichen.
Ein 400-/800-Meter-Modell sollte begründet individuell für den jeweiligen Athleten gewählt werden. Es stellt sich also die Frage: Welche Athleten entsprechen diesem Typus? Hierzu lässt sich zunächst einmal festhalten, dass die entsprechenden Sportler solche sind, deren längste, aber zugleich womöglich primäre Wettkampfdistanz die 800 Meter darstellen. Wettkampfeistungen allein sind aber nur ein sehr begrenzt tauglicher Anhaltspunkt. Insbesondere vor dem beschriebenen Hintergrund der Disziplinblock-Grenze zwischen 400 Meter und 800 Meter sind Unter- oder Überdistanzleistungen aus Wettkämpfen oft gar nicht vorhanden oder nur begrenzt aussagekräftig oder es liegen entgegen den (womöglich unentdeckten) Stärken nur verbuchte Leistungen „in die andere Richtung“ (200 Meter zu 400 Meter oder 1.500 Meter zu 800 Meter) vor. Wettkampfleistungen müssen zudem in jedem Fall in Relation zum absolvierten Training bewertet werden, konkret darauf, welches Energiesystem wie stark trainiert wird. Faustregel: Umso besser eine Leistung auch ohne Spezifik für diesen Bereich ist, umso vielversprechender.
Für einen gezielten stärkenorientierten Aufbau von Mittelstrecken-Talenten erscheint es sinnvoll, bereits mit Beginn des Aufbautrainings, also ab der U18, eine möglichst genaue Vorstellung davon zu gewinnen, welchem Athletentyp ein Sportler entspricht oder, anders ausgedrückt, wie stark er die jeweiligen (Wettkampf-)Leistungen aus welchem Energiesystem realisiert. Glücklicherweise liegen ausgangs der U16 in aller Regel noch deutlich mehr unterschiedliche Wettkampfleistungen vor. So erfüllen Talente mitunter mehrere (Landes-)Kadernormen von 100 Meter bis 800 Meter. Hier lohnt eine genaue Betrachtung des Verhältnisses dieser Werte zueinander – auch hier in Relation zum absolvierten Training. Im besten Fall werden diese durch gezielte Tests ergänzt.
Zunächst lohnt es sich, festzuhalten, dass Athleten, die 400 Meter und 800 Meter gut bedienen können und Kandidaten für das 400-/800-Meter-Modell sind, insbesondere durch folgende Kriterien auffallen:
- Sie können über die anaeroben Systeme viel Energie in definierter Zeit bereitstellen und erreichen dabei eine optimale Laktatbildungsrate. Optimal ist dabei nicht gleichbedeutend mit maximal. Zu hohe Laktatbildungsraten sind auch ein Ausschlusskriterium.
- Sie weisen eine hohe Laktattoleranz auf (Maximallaktat über eine definierte Distanz).
- Sie besitzen gute neuromuskuläre Fähigkeiten und daraus resultierende Schnelligkeitswerte (z. B: 30 Meter fliegend und Countermovement-Jump).
- Sie können gleichzeitig bereits ohne hohe Trainingsumfänge eine gute Grundlagenausdauer (genauer: VO2max) vorweisen.
Wie beschrieben, sind die hierfür nötigen Informationen nicht immer oder nur bruchstückartig vorhanden. Mit einem möglichst weiten Blick auf Wettkampf- und Trainingsergebnisse und idealerweise Leistungsdiagnostiken kann über eine „Indizienbeweisführung“ aber ein begründeter Verdacht abgeleitet werden, ob sich Athleten für ein 400-/800-Meter-Modell anbieten oder nicht.
Anhand von Testergebnissen, die im Rahmen des „800-Meter-Combine“ gewonnen wurden lässt sich feststellen, dass der 400-/800-Meter-Typ über ein recht breites Leistungsspektrum verfügt. Er zeichnet sich durch ein zu 800-Meter-Spezialisten stärkeres Niveau im anaeroben Bereich (Laktatbildungsrate, Maximallaktat, 30 Meter fliegend) und zu 400-Meter-Läufern stärkeres Niveau im aeroben Bereich (VO2max/ vVO2max) aus. Es darf angenommen werden, dass sich die aeroben und anaeroben Komponenten (und die dahinter liegenden physiologischen Grundlagen, wie z. B. die Muskelfaserverteilung) nur in einem individuell genetisch vorgegebenen Spektrum durch Trai¬ning verschieben lassen – aber gleichwohl entsprechend der individu¬ell optimalen Leistungsausprägung für die Wettkampfphase auszutarieren sind.
Die Ergebnisse der Leistungsdiagnostiken legen den verdacht nahe, dass die maximale Laktatbildungsrate für diesen Läufer-Typus zwischen 0,95 bis 1,20 mmol/l/s liegen sollte. Niedrigere Werte lassen es als fraglich erscheinen, ob schnell genug viel Energie bereitgestellt werden kann, um hohe Angangszeiten zu realisieren, insbesondere wenn die 30-Meter-fliegend-Zeiten sich im U18-Bereich nicht bereits unter 3,15 Sekunden bewegen. Höhere Laktatbildungsraten stellen aber auch ein Problem da, deuten sie doch darauf hin, dass der Körper dazu neigt, sehr stark Energie aus dem laktazid-anaeroben System zu generieren, was mit Zielsetzung 800 Meter zu einem Problem wird, da dies die aerobe Energiebereitstellung im Wettkampf zu stark hemmt.
Lohnenswert ist zudem der Blick auf die vVO2max, die stark in Bezug auf das hierfür bisher absolvierte Training gesetzt werden sollte. Erstrebenswert scheinen hier – abhängig von Trainingsalter und Vorgeschichte – Ende der Jugend Werte von rund 5,6 m/s
(= 3:00 min/km). Einige Talente weisen hier bereits deutlich bessere Werte auf. Grundsätzlich sollte für die internationale Spitze das Ziel bestehen, in der Hauptklasse einmal Werte von 6,0 bis 6,4 m/s (auch hier abhängig vom Athletentyp) zu erreichen. Entsprechend stellen zu niedrige Werte in frühen Jahren potenziell einen limitierenden Faktor dar.
Bei den genannten Werten muss angemerkt werden, dass es sich um Bereiche für Athleten der nationalen Nachwuchsspitze handelt, um die es letztlich in der Leistungssport- und Kaderförderung geht. Wie die Relationen für Athleten der zweiten Reihe im Vereinstraining für deren individuell bestmögliche Entwicklung zu bewerten sind, ist eine gänzlich andere Frage, bei der angesichts der zu erwartenden niedrigeren sportlichen Ziele andere Aspekte, nicht zuletzt der Spaß am Training, eine höhere Rolle spielen sollten.
Ableitungen für das Training
In einem ersten Schritt scheint es lohnenswert, insbesondere bei Athleten, die in der U16 auf 300 Meter und 800 Meter gute Leistungen andeuten, das Verhältnis von 30 Meter fliegend (bzw. 100-Meter oder besser 60-Meter-Wettkampf), 300-Meter-Bestleistung und 2.000-Meter-Leistung (oder 6-Minuten-Test) zu betrachten. Athleten, die hier in allen Parametern gut abschneiden und nicht an einem Ende deutlich abfallen, sollten nicht voreilig in eine Sprint- oder Laufschublade gesteckt werden. Dafür sind sowohl in den Verbänden als auch Vereinen gegebenenfalls disziplinblock-übergreifende Kooperationen notwendig.
Die alte Faustregel „erst die Geschwindigkeit, dann die Ausdauer“ ist verkürzt dargestellt. Vielmehr muss es bei den potenziellen 400-/800-Meter-Talenten darum gehen, alle leistungsbestimmenden Faktoren komplex kontinuierlich auszubauen, insbesondere weil die aeroben Kapazitäten lange Anpassungszeiten und daher langfristiges Training benötigen. Bedeutet: Die Sportler müssen sowohl ihre Maximalgeschwindigkeit (Schnellkraft, Frequenz) als auch ihre aerobe Basis (hier vor allem VO2max) maximal ausprägen – was sehr gut parallel funktioniert – als auch ihre anaerob-glykolytische Fähigkeiten (Laktatbildung und Laktattolleranz, vereinfacht: Schnelligkeitsausdauer) zu einem disziplingerechten Optimimum (≠ Maximum) ausprägen. In welchem Verhältnis dies zueinander geschehen muss, ist die entscheidende Frage, für die Heimtrainer die jeweils passende Antwort finden müssen.
Maßgeblich sollte die langfristige Entwicklung der genannten Leistungsparameter sein, weniger das konkrete Renntempo. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass die einzelnen Leistungsparameter in Beziehung zueinander stehen, vergleichbar mit einem Mobile. Man kann kaum eine Eigenschaft losgelöst von den anderen trainieren. Gerade in frühen Trainingsetappen verbessern sich vor allem die verschiedenen aeroben Parameter noch relativ geschlossen. Sehr wohl kann bzw. sollte man aber schon hier Schwerpunkte setzen. In späteren Trainingsjahren ist eine weitere Entwicklung anders kaum mehr möglich. Dann wird es umso bedeutender, konkret zwischen Schwellen- und VO2max-Training zu unterscheiden und sich zu überlegen, zu welcher Saisonphase was trainiert werden soll. Zwischen dem Training im überwiegend aeroben Bereich und im deutlich anaerob-laktaziden Bereich sollte stets klar unterschieden werden.
Für den 400-/800-Meter-Typ ist darüber hinaus von großer Bedeutung, dass er insbesondere die VO2max zum Teil anders trainiert als ein klassischer Mittel- oder Langstreckler. Während diese nicht selten Intervall-Dauern von rund drei Minuten im Bereich ihrer vVO2max absolvieren, fällt dies vielen 400-/800-Meter-Läufern extrem schwer. Gerade Jugendliche müssen sich längere VO2max-Intervalle erst erarbeiten. Sinnvoll erscheint es hier, in Ergänzung kurze Belastungen mit entsprechend noch kürzerer Pause zu absolvieren, beispielsweise 200-Meter-Intervalle mit 100 Metern Trabpause (20 bis 30 s) oder 100-Meter-Läufe mit 15 Sekunden Pause. Wichtig bleibt dabei, die richtige Intensität zu treffen, um einerseits reizwirksam zu trainieren, andererseits aber gerade bei den kurzen Intervallen nicht zu sehr über die Glykolyse zu arbeiten Trainer sollten vor allem auf kurze und aktive Pausen achten, was insbesondere im klassischen Langsprinttraining selten der Fall ist. Sind die Pausen zu lang oder zu passiv, sinkt in dieser Zeit die Sauerstoffaufnahme rapide und die folgenden Intervalle verlieren ihren Trainingseffekt. Neben diesen kurzen Intervallen sollten aber auch bei 400-/800-Meter-Typen regelmäßig Intervalle von 1–2 Minuten (aktive Pause von 45–90 s) integriert werden, da diese grundsätzlich den VO2max-Bereich besser treffen.
Fazit
Es gibt sie, die 400-/800-Meter-Typen. Um sie an ihre individuelle Leistungsgrenze zu führen, ist speziell abgestimmtes Training notwendig. Dieses kann zudem geeignet sein, Athleten anzusprechen, die sich bisher nicht in der Trainingsstruktur wiederfinden. Um das passende Training anzubieten, wird es nötig sein, stärker über die Disziplinblock-Grenzen hinweg zu denken.
Außerdem wird im Spektrum von 300 bis 1.000 Meter künftig noch stärker zu differenzieren sein, welche Stärken und Schwächen ein Athlet hat und auf welches Training er anspricht, um alle Athletentypen passgenau zu adressieren. Es kann dabei weder ein „One-size-fits-all“ geben noch kann es darum gehen, was dem Trainer mehr Spaß bereitet. Im Zentrum kann und darf nur einer stehen: der Athlet.
Dies ist eine gekürzte Fassung des Beitrags: „400 Meter und 800 Meter zusammen denken“ in leichtathletiktraining 5/2024. Der vollständige Artikel enthält weitere Details zum 800-Meter-Combine sowie Informationen zur Bestimmung der einzelnen Intensitätsbereiche inklusive einer tabellarischen Übersicht der unterschiedlichen Trainingszonen mit verschiedenen Hilfsparametern zu deren Einschätzung.