Der Schweizer Laurent Meuwly gilt im (Lang-)Sprint aktuell als einer der führenden Trainer weltweit. 2019 wechselte er zum niederländischen Leichtathletik-Verband und trug dort zum Aufschwung bei. Seine prominenteste Athletin ist zweifelsfrei Femke Bol. Die Doppel-Europameisterin über 400 Meter und 400 Meter Hürden und Vize-Weltmeisterin des Jahres 2022 über die hürdenbestückte Stadionrunde verbesserte jüngst in 49,26 Sekunden den 41 Jahre alten Hallen-Weltrekord über 400 Meter. Bei der Hallen-EM in Istanbul holten Meuwlys Athletinnen Gold, Silber und Bronze. Im Interview mit „leichtathletiktraining 4/2023“ erzählt er, wie er seine Schützlinge zu diesem Erfolg geführt hat und welchen Kernprinzipien sein Training folgt.
Andreas Grieß
leichtathletiktraining: Laurent, Femke Bol hat in diesem Winter den über 40 Jahre alten Hallen-Weltrekord über 400 Meter unterboten, als sie bei den niederländischen Meisterschaften in Apeldoorn 49,26 Sekunden lief. Ist sie die beste Läuferin aller Zeiten oder die am besten trainierte Läuferin aller Zeiten?
LAURENT MEUWLY: Für so eine Leistung muss sicher alles zusammenkommen: Talent, Training, die nötige Erholung und Gesundheit. Im Fall von Femke muss man festhalten, dass sie rein physisch sicher nicht die beste 400-Meter-Läuferin aller Zeiten ist. Natürlich ist sie auch physisch stark, sonst könnte sie nicht so schnell laufen. Bei ihr erstreckt sich das Talent aber auf das Mentale und ihr Commitment für den Sport, beispielsweise in der professionellen Art, sich auf einen Lauf vorzubereiten.
Und doch lief diesen Winter ja irgendetwas noch besser als bisher?
Wir arbeiten derzeit an einem Projekt: 14 Schritte für die 400 Meter Hürden. Deshalb versuchen wir, die Kraftwerte und das Stehvermögen sowie die Schnelligkeitsausdauer zu verbessern. Im Januar habe ich bei den spezifischen Einheiten gemerkt, dass Femke Fortschritte gemacht hat. Spätestens nach den 500 Metern in Boston (Hallen-Weltrekord am 02.03.2023 in 1:05,63 min; die Red.) wusste ich: Das wird gut. Der 400-Meter-Lauf in Metz kurz darauf in 49,96 Sekunden war schon sehr gut. Wir wussten aber, sie kann noch schneller rennen, wenn wir taktisch ein bisschen nachjustieren. In Metz war sie bei 200 Metern knapp unter 24 Sekunden durchgegangen, beim Weltrekord in Apeldoorn hat alles gepasst und sie lief die erste Runde in 23,63 Sekunden.
Hinter Femke Bollief Lieke Klaver dort in 50,34 Sekunden ebenfalls sehr schnell. Bei der Hallen-EM in Istanbul feierten beide erneut einen Doppelerfolg. Dritte wurde die Polin Anna Kiełbasińska, die ebenfalls bei dir trainiert. Anders ausgedrückt: Der komplette Medaillensatz ging an deine Athletinnen. Die niederländische Staffel lief in Istanbul zudem allen davon. Lässt sich das Erfolgsrezept deiner Langsprinterinnen auf eine Formel bringen?
Ich spreche gerne von einem polarisierten Training. Wir fokussieren uns einerseits stark auf hohe Intensitäten beim Kraft- und Schnelligkeitstraining, andererseits legen wir aber auch viel Wert auf hohe Umfänge bei niedriger Intensität mit dem Ziel, die aerobe Kapazität auszubauen. Natürlich absolvieren wir auch Einheiten in dem Bereich dazwischen, manche nennen es I3, aber maximal einmal pro Woche und insgesamt auch nur in wenigen Wochen innerhalb der Saison.
Zu meiner Philosophie gehört es, viel im aeroben Bereich zu machen. Wir absolvieren hier derzeit zwei Trainings pro Woche mit rund sieben bis acht Kilometern Umfang. Das sieht man nicht oft bei 400-Meter-Läufern. Gleichzeitig kann Femke aber auch etwa drei Sekunden über 30 Meter fliegend rennen und 100 Kilogramm in der Kniebeuge stemmen, obwohl sie sicher eher der Ausdauertyp ist. Warum? Zum einen, weil Femke im Krafttraining über eine sehr gute Technik verfügt. Zum anderen aber, weil wir die Einheiten für Kraft und Schnelligkeit erholt und in hoher Qualität absolvieren.
Du musst dich auch über 100 Meter und 200 Meter verbessern, wenn du schnell über 400 Meter sein willst. Das geht mit dem polarisierten Training, wie sich zum Beispiel bei Anna Kiełbasińska zeigt. Sie war früher Kurzsprinterin und hat sich dennoch jetzt im 400-Meter-Training auch über 100 Meter und 200 Meter verbessert.
Wenn du von 8 Kilometern Umfang spricht, heißt das dann auch Dauerläufe oder findet alles in Form von Intervallen statt?
Nein, Dauerläufe machen wir nicht. Eine typische Einheit mit hohem Umfang bestünde aus einem Warm-up in Form von zum Beispiel zwei Mal fünf Minuten progressiv gesteigert Laufen mit rund drei Minuten Pause dazwischen. Oder wir machen 3 x 3 Minuten mit zwei Minuten Pause. Dann folgen Mobilitätsübungen, Gymnastik und Aktivierung und dann einmal in der Woche zum Beispiel 10 x 300 Meter in 55 bis 60 Sekunden mit 45 Sekunden Pause. Die andere aerobe Einheit in der Woche könnten Minutenläufe sein, beispielsweise 6 x 2 Minuten oder auch variable Belastungszeiten, aber stets mit einer Pause, die kürzer ist als die Laufzeit. Insgesamt kommen so mit dem Einlaufen acht, vielleicht sogar zehn Kilometer zusammen, aber alles von der Intensität her vergleichsweise moderat mit geringen Laktatwerten.
Und wie integriert ihr solche Einheiten in die Trainingswoche?
Derzeit sind Montag und Freitag unsere Kraft-Tage. Ziel ist es, dass die Athleten hier sehr frisch sind. Sie wissen, dass dies wichtige Einheiten sind und nicht nur Ergänzungstraining. Die Woche beginnt also mit Sprint- und Krafttraining. Am Dienstag folgt ein Ausdauertag. Mittwochs legen wir den Fokus auf Schnelligkeitsausdauer oder Renngeschwindigkeit, nachmittags arbeiten wir an der spezifischen Kraft. Donnerstags steht wieder Ausdauer auf dem Zettel. Am Freitag arbeiten wir vormittags an der Beschleunigung und nachmittags wieder an der Kraft. Samstags absolvieren wir aktuell Hügelläufe, später kommen hier die bereits erwähnten I3- oder auch I2-Läufe zum Einsatz. Sonntag ist dann ein Ruhetag, damit die Athleten am Montag wieder frisch sind. Außer am Sonntag wird also jeden Tag gelaufen, aber nie zweimal mit dem gleichen Fokus hintereinander, um die Regeneration nicht zu gefährden.
Regeneration ist ein gutes Stichwort. In der Hallensaison und vergangenes Jahr bei der EM in München beeindruckte insbesondere Femke Bol durch ein sehr straffes Wettkampfprogramm. Wie stellt ihr die nötige Regeneration zwischen den Wettkämpfen sicher?
In der Vorbereitungsphase ergibt sich die Erholung immer aus dem angesprochenen Wechsel der Belastungen und aus ruhigen Tagen sowie dem freien Sonntag. Hinzu kommt natürlich Physiotherapie. Davon abgesehen, ist es aber wichtig, die natürliche Regeneration und damit auch Adaptation nicht zu unterbrechen. In der Wettkampfphase hingegen gilt es, die richtige Erholung zielgenau einzusetzen. Ich will ein Beispiel geben: In München nutzten wir zwischen den Wettkampfrunden das Eisbad. In dergrundlegenden Trainingsphase würden wir das aber nicht nutzen oder frühestens einen Tag nach der Belastung, um eben die natürlichen Prozesse nicht zu unterbrechen. Wenn Femke wie in München sehr häufig startet, gibt es einen präzisen Plan nicht nur für das Training, sondern auch im Bezug auf die Regeneration: Wann mache ich was? So war es auch diesen Winter in der dichten Wettkampffolge inklusive des Starts in Boston. Da war ebenfalls alles sehr präzise geplant inklusive eines Jetlag-Protokolls und der zielgenauen Einnahme von Nahrungsergänzung.
Lässt sich das von dir beschriebene Trainingssystem auf andere Athleten übertragen oder ist es möglich bzw. für manche Athleten sogar notwendig, mit einer sehr anderen Trainingsgestaltung zu arbeiten, um in die Weltspitze vorzustoßen?
Ich denke, unser Weg ist am besten geeignet, einzelne Elemente wie Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer zu entwickeln. Wenn du viel Trainingszeit in der, wie ich sie nenne, „grauen Zone“ dazwischen verbringst, bist du zu müde für Sprints und Krafttraining. Man kann mit mittleren Intensitäten sicher große Fortschritte machen, die Frage ist aber über wie viele Jahre? Irgendwann kommt man nicht weiter. Ich bin zudem überzeugt, dass der Umfang in den aeroben Grundlagen auch hilft, den Gesamtumfang in den höheren Intensitäten besser zu verkraften.
Das gilt übrigens nicht nur für die Weltspitze. Gerade in der Jugend ist diese Art von Training sehr praktikabel, wenngleich natürlich nicht mit den gleichen Umfängen. Du hast den Fokus auf Sprint, Kraft und Ausdauer. Das ist wichtig für junge Athleten. Ich merke mehr und mehr, dass die Ausdauer ein großes Defizit ist bei Athleten, die aus dem Sprint oder Mehrkampf kommen. Manche Athleten können sich nicht einmal zwei Runden am Stück einlaufen. Dass das später für eine 400-Meter-Karriere limitierend ist, ist ja wohl klar.
Das komplette Interview mit Laurent Meuwly ist in leichtathletiktraining 4/2023 erschienen. Hier erzählt er nicht nur, wie er seine Schützlinge zu diesem Erfolg geführt hat und welchen Kernprinzipien sein Training folgt, sondern auch, wie wichtig ein zentrales Trainingszentrum wie das in Papendal ist.